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Religionsfreiheit: Kirgisistan

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  • Alexander Wolters

DOI:

https://doi.org/10.48604/ct.442

Keywords:

religious freedom, Kirgistan, religious diversity, Islam , Christianity , Hizmet movement, Gülen movement

Abstract

Fazit: Die laufenden Debatten über die angebliche Gefahr des radikalen Islam und die neuen Versuche, mit Hilfe passender Bildungsangebote das Problem in den Griff zu bekommen, beschreiben gegenwärtig gut das Beziehungsgeflecht zwischen
Politik, Staat und Religion in Kirgisistan und die Spannungen, die in diesem Geflecht entstehen. Das neue parlamentarische System hat der Politik neue Gestaltungsspielräume geschaffen, die von den politischen Akteuren allerdings kaum mit Inhalten besetzt werden, sodass sich trotz freier und fairer Wahlen die Menschen in der Mehrzahl enttäuscht von der Politik abwenden. Trotz der spürbaren Tendenzen zum Autoritarismus hin ist Kirgisistan, im Unterschied zu seinen Nachbarrepubliken, mit öffentlichen Freiheiten ausgestattet, die gesellschaftliche Kritik ermöglichen und einen kritischen Diskurs am Leben halten.
Jenseits dieser öffentlichen Diskussion, die sich häufig auf eine kleine urbane Mittelschicht in Bischkek konzentriert, äußert sich die allgemeine Frustration allerdings in einem Zynismus, der Politik schnell mit Machtmissbrauch und Betrug gleichsetzt. Das generelle religiöse Erwachen seit den frühen 1990er Jahren erhält mit dieser Entwicklung noch einen weiteren Impuls. Religion ist nun nicht mehr primär ein gesellschaftlicher Raum, der die Politik komplementär ergänzt, sondern wird zum Refugium, welches zunehmend mit der Politik und ihrem Akteur, dem Staat, in Kontrast gesetzt wird. Ganz gleich, ob in Bibelschulen, in Madaris, zu Hause im familiären Bereich oder im Rahmen der Dorfgemeinschaft: Zunehmend erfahren religiöse Prinzipien mehr Bedeutung in der Regelung sozialer Beziehungen als ihre staatlichen Pendants. Der Staat in Kirgisistan reagiert auf diese Entwicklung mit Sorge, formuliert diese allerdings vorschnell im Kontext eines „Diskurses der Angst“, der sich aus Jahren der Einbindung in den „War on Terror“ und der bequemen Instrumentalisierung von Angst zur Ablenkung von eigenem Versagen speist. Unter diesem Eindruck stehen auch die Initiativen zur Reform des Religionsunterrichts. Das emanzipatorische Ansinnen, jungen Menschen Bildung als Rüstzeug zur späteren Lebensgestaltung mit auf den Weg zu geben, wird schnell eingeholt von dem staatlichen Bedürfnis, möglicher Radikalisierung Einhalt zu gebieten und die Jugend gegen Fundamentalismus zu „impfen“. Das Risiko ist hierbei der Verlust des emanzipatorischen Ansatzes: Die „Impfkampagne“ droht in staatlich organisierter Indoktrination zu münden, was umgekehrt jede aufklärerische Ambition vorschnell zum Scheitern verurteilt.
Hier schließt sich der Wirkungskreis zwischen Politik, Staat und Religion in Kirgisistan: Staatliche Autorität versucht, mit Eingriffen in das Bildungssystem extremen Formen der religiösen Sinnsuche Einhalt zu gebieten, droht aber im Kontext solcher Disziplinierungsversuche die Jugend noch stärker zu entfremden und radikalen Gruppen mehr Raum für ihr Engagement zu öffnen. [...]

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Posted

2023-03-24